Mobilitätssysteme im digitalen Umbruch – fährt unsere Wertschöpfung davon?

Diese Frage stellte sich der Münchner Kreis in Potsdam beim zweitägigen Symposium „Mobilitätssysteme“ im digitalen Umbruch Ende März 2019. In Workshops und Präsentationen referierten und diskutierten Experten aus Wissenschaft und Praxis folgende Fragen:

  1. Wie ändert sich die Wertschöpfungskette der Mobilität?
  2. Was bedeutet Servicezentrierung für das zukünftige Mobilitäts-Ökosystem #SMARTMobility und #SMARTCities
  3. Wie bereitet sich Europa auf die #SMARTMobility Offensive aus China und Amerika vor?

Der Münchner Kreis ist ein gemeinnütziger eingetragener Verein, der sich seit 1974 mit Fragen der Technologie, der Gesellschaft, der Ökonomie und der Regulierung im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechniken sowie der Medien befasst. Er will Menschen in Führungspositionen Orientierungshilfen bei der digitalen Transformation geben.

Aktueller Vorstandsvorsitzender ist Prof Dr. Michael Dowling.

Ich war Teilnehmer im Auftrag des Bundesverbandes eMobilität BEM e.V. als deren wissenschaftlicher Beirat und Beauftragter für Mobility-as-a-Service (MaaS) und China. Vertreter aller betroffenen Sektoren waren vertreten, nur die Automobilindustrie glänzte durch Abwesenheit und fehlte als wichtiger Fach-und Machtpromotor unserer zukünftigen Mobilitätssysteme.

Diagnose Deutschland: Mobilitätsinfarkt

Mobilität ist eine der dringendsten gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und die Grundlage unserer globalen Ökonomie. Damit wird sie zum Treiber von Wachstum und Wohlstand. Die Freiheit uns selbst und Güter über Ländergrenzen und Kontinente zu bewegen ist ein wichtiger Pfeiler unserer Lebensqualität bzw. Lebensgrundlage und diese wiederum sind stark von der Veränderung unseres Klimas geprägt. Professor Andreas Herman, Direktor des Instituts Customer Insights an der Universität St. Gallen erklärte Mobilität sogar zum Menschenrecht. Vor der eigenen Haustür in Deutschland erleben wir aktuell einen Mobilitätsinfarkt: Auf der Straße, der Schiene und in der Luft sprengt unser Mobilitätsverhalten die Kapazitätsgrenzen, ist sehr teuer und geprägt von Zeitverlust durch Stau, Luftverschmutzung und extrem hohen Flächenverbrauch in den Städten.

Abbildung 1: Dr. Mara Cole, Direktorin Connected Mobility beim Zentrum Digitalisierung Bayern und Dr. Nico Grove, CEO Institut für Infrastructure Economics & Management, fassen die Ergebnisse der Workshops zusammen.

Wem gehört der Lebensraum Stadt?

Durchschnittlich 50% der städtischen öffentlichen Flächen in europäischen Metropolen sind Autos gewidmet, in Los Angeles sind es 70%. Das Stadtbild wird geprägt von Straßen und Parkplätzen und das führt automatisch zu mehr Verkehr. Unsere Infrastruktur ist mit dem steigenden Verkehrsaufkommen gewachsen – statt menschengerechte Städte zu bauen, wurden seit den 50er Jahren autogerechte Städte gebaut. Die Folgen reichen von verpesteter Luft bis Staukolonnen in fast allen Groß- und Kleinstädten. Die Luftverschmutzung durch Dieselabgase ist im vergangenen Jahr in 57 deutschen Städten höher als erlaubt gewesen. Erste Maßnahmen haben dazu geführt, dass der EU-Grenzwert für gesundheitsschädliches Stickstoffdioxid (NO2) in acht Städten eingehalten wurde. (Quelle)

Muss das so sein? Die Antwort lautet nein, als Oliver Bertram, Architekt, Städteplaner und Gründer der Wideshot Design GmbH in Wien, seine Vision der Zukunft präsentiert. Er stellt den Menschen und seine Bedürfnisse radikal in den Mittelpunkt. Er fordert höhere Lebensqualität, mehr Freiflächen, mehr Grün, Flächen für temporäre Nutzung, sichere Straßen und Wohnquartiere. Heute sind Fahrzeuge in Wien ca. 1 Stunde in Bewegung und verweilen 23 Stunden auf Parkflächen. In Zukunft, mit #SmartMobility und #SMARTCity Lösungen kann dieses Verhältnis umgekehrt werden. Also 1 Stunde Stillstand und 23 Stunden soll das Fahrzeug in Bewegung sein. Seiner Schätzung nach, werden dadurch 60-80% aller Parkflächen obsolet und graue Parkplätze könnten sich in grüne Begegnungszonen verwandeln:

     

Abbildung 2: Parkfläche in Wien             Abbildung 3: Simulation (http://www.wideshot.at/)

Nach den Berechnungen des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft sind 50 % unserer Wertschöpfung in Deutschland direkt und indirekt vom Automobil abhängig. Das könnte sich in den nächsten Jahren radikal ändern: Plattformen aus den USA, Batterien aus Asien und „Robotaxis“ werden die Wertschöpfungskette der Mobilität von Menschen und Gütern mittels kostengünstiger Standard-Hardware neu definieren.

Es steht viel auf dem Spiel. Sollte bei dem Automobil der Zukunft die digitale Plattform für Autonomes Fahren mit Künstlicher Intelligenz aus den USA und die Batterie aus Asien kommen, hätten Deutschland und Europa mehr als 50 Prozet der Wertschöpfung in diesem Bereich verloren. Die damit verbundenen Auswirkungen gingen weit über den Bereich der Automobilwirtschaft hinaus. Diese Problematik betrifft deshalb nicht nur die Unternehmen der Branche, sondern alle wirtschaftlichen und staatlichen Akteure gleichermaßen.

Auszug nationale Industriestrategie 2030, BMWi

Mobility-as-a-Service auf Basis eines Verkehrsmanagement-Systems

Das alles führt zu einer Transformation des heutigen motorisierten Individualverkehrs (MIV) und zu einem optimierten Mobility-as-a-Service (MaaS) System. Große Einigkeit herrschte bei den Experten, dass ein übergreifendes „Verkehrsmanagement- System“ (VMS) als Fundament benötigt wird. Dieses steuert den gesamten Verkehr nach der Nachfrage und integriert alle anderen Verkehrsmittel. Ein integriertes VMS ermöglicht einerseits Mobilitätsservices und berücksichtigt andererseits unseren Datenschutz in Europa als sehr spezifische Herausforderung.

Prof. Florian Matthes, Leiter des Lehrstuhls für Software Engineering betrieblicher Informationssysteme an der Technischen Universität München,  führte dazu 2018 eine Untersuchung in der Region München durch und zeigte auf, dass die verschiedenen Verkehrsträger und Sektoren wenig bis keine Bereitschaft auf eine gemeinsame Plattform haben. Der Trend geht in Richtung vieler verschiedener Einzellösungen, bei der jeder Anbieter seine eigenen Ziele für sich optimiert.

Ob der Kunde das akzeptiert, wird sich zeigen. Ich für meinen Teil möchte nicht, wie aktuell über zwei Dutzend verschiedene Plattformen/App-Services nutzen, sondern einen Anbieter, der zum Beispiel meine Reise von München nach Berlin plant. Diese Plattform soll mir (m)eine ideale Kombination von öffentlichen Verkehrsmitteln, Fahrrädern, Scootern und Fahrzeugen vorschlagen. Individuell aufgrund meines Mobilitätsverhaltens und meiner Mobilitäts-Daten aus der Vergangenheit.

#SmartMobility benötigt dafür dieses integriertes Verkehrsmanagement. Nach den Römischen Verträgen steht die EU in der Pflicht, diese neue #SMARTMobility so zu gestalten, dass einerseits Wettbewerb bestehen bleibt, andererseits die Mobilität in der EU barrierefrei realisiert wird und europäische Datenschutzbestimmungen eingehalten werden. Somit werden EU- einheitliche Lizenzbedingungen und Kommunikations-Standards für VMS und das autonome Fahren erforderlich – von #SmartData als Grundlage und Steuerungsmöglichkeit hinsichtlich Planung aber auch flexibler Auslastung bis hin zu real-time Koordination zwischen verschiedensten Transportmitteln. Obwohl diese neuen Technologien, Mobility-as-a-Service und auch autonome Mobilität, „ante portas“ stehen, ist bisher keine Aktivität dieser Art auf europäischer Ebene bekannt geworden, laut dem Jurist Dr. Lang, Partner bei der Kanzlei Bird&Bird. Sein Vorschlag: Das Verkehrsmanagement-System gehört zur Infrastruktur und wird damit zu einer öffentlichen Aufgabe. Private und öffentliche Unternehmen inklusive Start-ups können Lizenzen unter noch festzulegenden Bedingungen erwerben und erhalten Zugang zum VMS unter Bereitstellung der Verkehrsdaten in anonymisierter Form. Blockchain-Technologie könnte hier in Zukunft als Grundlage dienen. Die Abrechnung zwischen Mobilitätsplattformen und Verkehrsmitteln, die Koordination und der Austausch der Daten werden somit sicher und anonym ermöglicht. (Quelle)

#SmartMobility Offensive aus Amerika und China

Ist es möglich eine gesamt europäische Lösung zu finden? Wird es eine Lösung in Deutschland geben oder doch nur Einzellösungen der Anbieter und Kommunen? Verschläft unsere Politik den Trend und überlässt den Technologie-Giganten und Marktführern aus Amerika und China das Feld? Fragen auf die wir jetzt eine Antwort finden müssen.

Europa kann von China und Amerika lernen. Beide Länder sind uns in Mobilitätsfragen weit voraus und erste #SmartMobility Lösungen sind bereits erfolgreich implementiert. Beide Länder könnten nicht unterschiedlicher sein in Ihren Herangehensweisen.

Der Ansatz in den USA lautet:

Geschäftsmodelle werden ausgehend vom Nutzer und seinen Bedürfnissen entwickelt. Diese werden ohne klar verstandene Wirkung in ein Gesamtsystem integriert – nach rein marktwirtschaftlich gesteuerten Vorgaben.

Der Ansatz in China lautet:

Eine Lösung wird nach zentraler Planung von der Regierung für das gesamte Land entwickelt und anschließend werden diese für die Reisenden möglichst gut nutzbar gemacht – quasi planwirtschaftliche Vorgaben.

#SmartMobility made in Europe?!

Claudia Plattner von der Deutschen Bahn und Michael Hanke von der Detecon AG (München) widmeten sich diesem Thema. Europa könnte das Beste von beiden Systemen vereinen. Eine nach klarer Zielformulierung konsequent durchdachte Umsetzungsplanung, deren Lösungselemente bereits mit und für die Reisenden entwickelt wurden. Europa kann und sollte hier seinen eigenen Weg, unter Berücksichtigung unserer gesellschaftlichen Werte und Prinzipien, wie Schutz der Privatsphäre, finden. Eine weitere Möglichkeit mit dem Datenschutz umzugehen, ist die optionale und transparente Bereitstellung seiner persönlichen Daten gegen einen Mehrwert, wie zum Beispiel die Planung und Umsetzung von individuellen Mobilitätsbedürfnissen.

Das Rennen um die Vorherrschaft von #SMARTMobility Lösungen, die stark von autonomer, sicherer, nachhaltiger und intelligenter Mobilität geprägt sein werden, ist eröffnet. Ein Kredo aus den USA und aus China sollten wir übernehmen: „Done is better than perfect“. Die Expertise, Netzwerke und Think Tanks (u.a. Fraunhofer, Max Plank, Aurora, BEM e.V., Münchner Kreis) sind in Deutschland vorhanden. Das Erfinderland des Automobils und der Eisenbahn sollte jetzt die Mobilitäts-Revolution aktiv vorantreiben und wieder eine Führungsrolle übernehmen.